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Statistik als Welt-Anschauung
Der Vaterstettener Bernhard Lermann zeigt mit dem Künstler Jens Semjan Wirklichkeit als Datensammlung

Süddeutsche Zeitung, Münchner Kultur, 03.02.2010

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Erst die Zahl macht den Menschen
Zwei Konzeptkünstler zerlegen die Welt in Statistiken und gelangen so zur allgemeinen Gleichheit

Die Welt, 10.02.2010

Zahlen: unbestechlich, starr, wahrhaftig. Und unbeirrbar. Aber erst in mathematischen Listen entfalten sie ihre wahre Seriosität und Schönheit. Wenn sie zur Statistik geworden sind. Sie ist das eigentliche Rückgrat der abendländischen judäo-christlichen Kultur. Ohne die Kulturtechnik der Volkszählung (reine Mathematik!) wäre ein Ort wie Bethlehem nie Kristallisationspunkt einer Religion geworden.

Aufzählungsreihen sind von Anfang an eine zivilisatorische Obsession der Menschheit gewesen. Ordnen, messen, regeln, regulieren und auf diese Weise Kontrolle gewinnen oder zurückgewinnen: Die Statistik sagt alles über uns. Und über jene, die sie anlegen. Seien es nun Autoren des Barock wie Grimmelshausen oder Rabelais, Balzac und seine Schilderungen der Waren in Pariser Kaufhäusern oder Thomas Pynchon, Georges Perec und Peter K. Wehrli, die exzessiv fantastische Auflistungen in ihren Büchern unterbrachten. Seien es Künstler wie Christian Boltanski, Herrman de Vries, Hanne Darboven oder der große ironische Zeichner Saul Steinberg. Seien es data miners, die ökonomische Kohärenz zu Datenpaketen verschnüren, betriebs-wirtschaftliche Kennzahlen in Diagramme überführen oder zukünftige Entwicklungen zu identitätsbildenden Konsumpoetiken zurechtfeilen. Nicht die Personenscanner machen sichtbar und durchsichtig, sondern Nummerierungen, Zahlen, Daten. Die es über alle gibt. Und über alles.

Datenfischer wie das Statistische Bundesamt oder Eurostat, aber auch Statistica legen bereitwillig Zahlengebinde sonder Zahl offen. Von den Fangmengen im östlichen Mittelatlantik über nach Geschlecht angeordnete Gesunde Lebensjahre und Lebenserwartung bei der Geburt – im Jahr 2000: Deutschland 64,6 Jahre, Italien 72,9 Jahre und Finnland 56,8 Jahre – bis zur ausdifferenzierten Leistung von Gütermotorschiffen nach der Nutzlast, es ist alles greif- und von neuem arithmetisch verschlüsselbar.

Umberto Eco, der diesen Winter im Pariser Musée du Louvre eine Schau über die Liste organisierte (WELT v. 14.1.) und sich als Semiotiker von Berufs wegen lange mit der Entkryptisierung allen Kulturellen beschäftigte, meint: „Die Technik der Aufzählung will keine Ordnung in Frage stellen, im Gegenteil, sie will versichern, dass die Welt des Überflusses und des unbeschränkten Konsums für alle da ist und dass sie das einzig mögliche Modell einer geordneten Gesellschaft ist.“ Jens Semjan, einst Meisterschüler des amerikanischen Konzeptkünstlers Joseph Kosuth, und der PR-Fachmann Bernhard Lermann wollen in einer Ausstellung in München in 300 Statistiken die gesamte Welt abbilden. Und erzeugen doch mit ihrem verspielten Katalog etwas, was aufbereitetem Zahlenmaterial nicht ohne weiteres zugeschrieben wird: Verblüffung, dann Staunen, schließlich Überdruss. Letztlich ein Umkippen und den Verlust jeglicher Sicherheit. Mittels mehrerer analoger Diaprojektoren des Modells Kodak Carousel S-AV 2050, deren statistischer Verbreitungsgrad heute gering ist, legen sie arithmetische Äquatorialbänder um den Globus. Wobei allerdings eines vergeht und im Schwindel des Egalitären verglüht: die ausbalancierte Gewichtung der Themen. Wenn sie eines demonstrieren, dann, dass Statistiken Leere erzeugen. Das unaufhörliche Kartieren minuziöser Absurditäten kippt um in wirren, obsessiven Zahlenfetischismus, der sich bedenklich einem intellektuellen Okkultismus ohne jeden archimedischen Punkt annähert. Und hie und da in das Stadium visueller Vernarrtheit in Anleitungsmanuale übergeht, die im Moment der peniblen Zusammenstellung – und das ist eine zusätzliche böse Drehung der Zahlenschraube – bereits wertlos sind.

Friedensmissionen weltweit. Kalorienverbrauch per Tätigkeit. Flächenverbrauch der Siedlungsfläche in Deutschland. Anzahl der Kinobesuche per annum. Gewaltverbrechen in baltischen EU-Staaten. Flugzeugabstürze nach Flugphasen. Opiumanbau in Afghanistan. Zahl der Strafgefangenen in Deutschland. Asiatische Fertilitätsräten. Zahl der gestohlenen Autos auf Malta und Zypern. Die Top Ten des weltweiten Rüstungsumsatzes. Weltweiter Umsatz mit Pornographie. Was ist wichtig, was unwichtig? Welche Makroparameter legt man an und welche mikroskopische Perspektive verwirft man? In diesen nivellierenden Diskrepanzen tun sich immer breitere Risse auf. Und es tritt eine poetische Schönheit des Allgleichen und allseits Unwichtigen zu Tage.

Hintersinnig nennen Semjan und Lermann, die den Subversionen der Konzeptkunst verpflichtet sind, ihre so statuarisch daherkommende Diashowinstallation „The Grand Insolvency Show“. Insolvenz ist wörtlich das Nicht-Lösende. Wenn also der numerische Boden sich auftut und das Unberechenbare erscheint. Und alles verschlingt. Mit Mann und Maus und allen Zahlen.

„The Grand Insolvency Show“ in der Galerie Lothringer13, München, bis 26. Februar.

Alexander Kluy

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© Lothringer13, Städtische Kunsthalle München
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