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Eröffnungsrede

Seit 1996 hat Michal Kosakowski viele Verwandte, Freunde und Bekannte, Künstlerinnen und Künstler nach ihren Mordfantasien gefragt – und daraus sind im Verlauf des letzten Jahrzehnts 49 Kurzfilme entstanden – zwischen wenigen Sekunden oder auch mehr als zehn Minuten lang. Die Mordfantasien derer, die sich an dem Projekt beteiligt haben, hat Michal Kosakowski dann jeweils in einer kleinen Geschichte inszeniert und verfilmt – häufig mit sich selbst als Darsteller und vor allem auch mit denen, die ihm ihre Fantasien preisgegeben haben.

Diese 49 Kurzfilme werden nun in der Installation „Fortynine“ in Endlosschleifen alle gleichzeitig dargeboten – in einem voll verspiegelten Kubus unendlich oft wiederholt, in einer nicht nur technisch außerordentlich aufwändigen Gestaltung, sondern auch in einer, wie ich finde, ganz ungewöhnlich eindrucksvollen und eindringlichen Präsentation. Wie gesagt, alle Filmen sind gleichzeitig zu sehen – zu hören ist jedoch nur der Ton von jeweils einem Film, und zwar von genau dem Film, der in der Projektion jeweils einen roten Rahmen hat.

Innerhalb der Filme gibt es eine bestimmte Binnengliederung: In der Diagonalen der Projektionsfläche sind Filme zu sehen, die thematisch den sieben Todsünden zugeordnet werden können: Hochmut, Habsucht, Wollust, Trägheit, Neid, Zorn und Genusssucht.

Das Publikum sollte eher nicht versuchen, sich ein vollständiges Bild der 49 Kurzfilme zu machen (das würde ohnehin mehrere Stunden dauern), sondern sich zwei oder drei Filme genauer anzuschauen – und auch darauf achten, wie es Ihnen selber mit diesen Filmen gilt, vielleicht sogar, in aller Zurückhaltung gesagt, was möglicherweise Ihre eigenen Mordfantasien sind – als Täter bzw. als Opfer. Übrigens wollen mehr als 3/4 der Beteiligten Täter sein und nicht Opfern: Lieber selber morden als ermordet werden. Der Tendenz nach es ist es wohl auch so, dass sich gewisse geschlechtsspezifische Unterschiede abzeichnen: Frauen bevorzugen die schockierende, provozierende, gewissermaßen schlagartige Tat, während Männern zum Teil dazu neigen, das Töten geradezu zu zelebrieren. Aber Vorsicht, das sind allenfalls flüchtige, alles andere als stabile oder verallgemeinerbare Trends.

Keiner der 160 Darsteller ist jemals straffällig geworden ist oder jemals in solche Gewaltverbrechen tatsächlich verwickelt war, wie sie hier gezeigt werden. Michal Kosakowski ist, wie mir wiederholt von verschiedener Seite versichert wurde, ein bemerkenswert friedlicher Mensch. Ich selber kenne Michal Kosakowski von seinem Projekt „Just Like the Movies“. Während ich selber für meine wissenschaftliche Arbeit nur acht bis zehn Filme gefunden habe, die zwar Jahre vor dem 11. September 2001 entstanden sind, die aber jetzt dennoch wie eine Dokumentation der damaligen Anschläge wirken oder wie hellsichtige Vorwegnahmen, hat Michal Kosakowski Ausschnitte aus fast 50 Filmen zu einer bemerkenswerten fiktiven Dokumentation bzw. Antizipation des 11. September verarbeitet. Diese Projekt ist übrigens national und international intensiv beachtet worden.

Die Annahme, man habe es bei allen Beteiligten am heutigen Projekt „Fortynine“ mit Menschen zu tun, die genau so friedlich oder gelegentlich auch weniger friedlich sind, wie wir alle, diese Annahme ist unter allen Umständen zu sichern. Einigermaßen kundig im komplexen Feld von „Medien und Gewalt“ darf ich darauf bestehen, dass jede voreilige und leichtfertige Pathologisierung unbedingt zu vermeiden ist. Ich halte andererseits freilich auch nichts von jener billigen Verbrüderung nach dem Motto „Wir sind alle Mörder!“ Selbstverständlich spielt sich das Projekt „Fortynine“ im Feld von bedenklichen Mordfantasien, im Feld von Exhibitionismus und Voyeurismus, meinetwegen auch im Feld von Sadismus und Masochismus ab, aber alles, was man dazu sagt, denkt und vor allem empfindet, muss sehr sorgfältig auf Genauigkeit, Abstufungen, Differenzierungen achten – vor allem auch darauf, dass wir es hier mit einer künstlerischen Installation zu tun haben, mit einer medialen, technischen und ästhetischen Situation.

Ein kleiner, kurzer Rückblick: Alle Bilder der Gewalt verändern sich selbstverständlich im Lauf der Zeit durch veränderte gesellschaftliche, kulturelle und technische Bedingungen. Die verbreitete Annahme indessen, Gewalt habe im Verlauf der Geschichte, habe vor allem auch im Verlauf der neueren Mediengeschichte immer nur zugenommen, Gewalt sei immer grausamer und ihre bildlichen Darstellungen seien immer spektakulärer geworden – diese Annahme scheint zwar dann berechtigt, wenn man an die terroristischen Gewaltverbrechen der Gegenwart denkt (etwa wieder den 11. September 2001 in New York bis hin zu den Hinrichtungen vor laufender Kamera), gleichwohl wird man insgesamt keine historisch kontinuierlich aufsteigende Linie der Gewalt-Expansion nachweisen können.

Bilder (welcher Art auch immer) beziehen sich seit langem und mit Vorliebe auf unerhörte, gewaltsame Begebenheiten, auf Totschlag und Mord, auf Folter und Hinrichtungen. Zu den ältesten Bildern der Menschen zählen die Höhlenmalereien der Altsteinzeit (etwa 15.000 v. Chr.). Sie zeigen gewalttätige Jagd und vor allem auch verletzte oder getötete Jäger. Die oft etwa auf Tongefäßen illustrierten Mythen der griechischen Antike kennen das religiöse Menschenopfer (auch den Kannibalismus), den Kindermord durch die eigenen Väter und die Mütter. Nicht nur in der römischen Arena kommt es zu tatsächlichen Folterungen und Hinrichtungen, sondern auch in Theateraufführungen: Zum Tode Verurteilte werden zum Mitspielen gezwungen und sie erleiden dabei ihren Bühnentod ganz real. Ruheräume, Schlafräume in römischen Privatvillen wurden nicht selten mit Bildern, mit Mosaiken grausamer Folterszenen „geschmückt“.

Das Alte Testament ist voll von „Hiobsbotschaften“, ist voll von Gewalt und Tod. Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Abraham ist in bedingungslosem Gehorsam gegen Gott bereit, seinen eigenen Sohn Isaak zu töten. Das Neue Testament nennt schon zu Anfang den Bethlehemischen Kindermord. Unzählige Bilder dieses Motivs folgten. Wiederum unzählige Darstellungen der Bildenden Kunst zeigen den Tanz einer meist spärlich bekleideten oder nackten Salome und bedienen einen wiederum weit zurückreichenden Zusammenhang von Gewalt und Sexualität.

Im Kontext der unübertroffen oft bebilderten Passion Christi findet man auch die Geburtsstunde der medialen Dokumentation von Gewalt. Die Legende vom „Schweißtuch der Veronika“ basiert auf der Möglichkeit, dass sich die reale Gewalt – ohne Umwege und Zeitverzögerungen durch nacharbeitende Maler und Zeichner – selbst dauerhaft abbilden kann, wie mit einer Kamera. Und das Bild zeigt ein „Haupt voll Blut und Wunden“.

Mittelalter und Frühe Neuzeit „dokumentieren“, und zwar, wie es scheint, in allen blutigen Einzelheiten und ohne ersichtliches Tabu, die damals üblichen Arten der öffentlichen Hinrichtungen. Vorläufer der sensationslüsternen Boulevardpresse des 20. und 21. Jahrhunderts findet man also spätestens in den nach 1575 massenhaft verbreiteten illustrierten Flugblättern. Wort und Bild zielen schon hier keineswegs nur auf Abschreckung, sondern gerade auch auf die Gewalt-Gier, auf die Angst-Lust, auf die „Lust an der Unmoral“ (Peter von Matt) eines zahlenden Publikums.

Die Fotografie wendet sich, kaum erfunden und technisch einigermaßen handhabbar geworden, nahezu unverzüglich gerade auch dem Thema „Gewalt“ zu und mobilisiert vor allem hierfür auch den größten technischen und organisatorischen Aufwand. Mathew B. Brady fotografierte im amerikanischen Bürgerkrieg nicht nur gefallene Soldaten wenige Zeit nach ihrem Tod, sondern er fotografierte auch Leichen in fortgeschrittener Verwesung. Brady fotografierte am 7. Juli 1865 die Hinrichtung der Verschwörer des Attentats auf Abraham Lincoln (unter ihnen eine Frau) – so weit ich sehe, der aller erste Versuch, den Augenblick des Todes medial festzuhalten.

Ohne dass sie fotografisch festgehalten und als Bild-Souvenirs ausgetauscht werden, sind die besonderen Folterungen im irakischen Gefängnis von Abu Ghraib auch für die Folterer „nutzlos“. Welchen „Nutzen“ sollte es auch haben, Leiber so aufzutürmen, geschundene und geschändete Körper derart vorzuführen, wenn dann kein Bild davon festgehalten werden kann. Die Anwesenheit von handlichen Digitalkameras erzeugt überhaupt erst diese besondere Art der Folterung – in verschärfter Fortsetzung der alten Idee von der Trophäe, vom Skalp, dem triumphierend vorgezeigten abgeschlagenen Kopf des Feindes. Es ist alles andere als ein Zufall, dass wir bis heute im Zusammenhang mit Fotografie und Film von „Shooting“ sprechen, davon reden, dass wir ein Foto „schießen“.

Michal Kosakowskis Projekt hat eine bemerkenswerte, wichtige formale, stilistische Radikalität, eine Rücksichtslosigkeit (im besten Sinne), von geradezu körperlich nahe gehender Unbequemlichkeit. Ich will aufmerksam machen auf diese Art von unvermeidlicher, vielleicht sogar „nützlicher“ Zudringlichkeit durch Kunst. Interessant sind also Bilder, deren Stil einem grenzüberschreitenden „Gewaltakt“, einem „grausamen Einfall“ nahe kommt. Der „grausame Einfall“, das zudringliche, rücksichtslose und so gesehen „verletzende Bild“ ist möglicherweise ein zentrales Merkmal vieler „guter“ Kunst, vielleicht sogar deren wichtigstes Merkmal. Karl Heinz Bohrer schrieb einmal: „Es bedarf keiner ausführlichen Darlegung, dass Kunst und Literatur prinzipiell etwas mit Aggressionen oder Gewalt zu tun haben. (…) Gewaltthemen treten deshalb so oft in der Kunst auf, weil ihre formale Expression der dem großen Künstler eingeborenen Affinität zum Stil, der verwundet, entgegenkommt. (…) Innovation und Aggression treten zusammen.“ Unser Interesse an den Arbeiten von Michal Kosakowski gilt einem überraschenden, frappierenden Stil – einem Stil, der kränkend, verletzend, aggressiv sein kann, vielleicht sogar sein muss.

Das, was hier gezeigt wird: Giftmord, Folter, Selbstmord, Hinrichtung, Ritualmord, Gewalt gegen Frauen und von Frauen, auch Gewalt gegen Kinder, Gewalt politisch, pathologisch oder sexuell motiviert – das alles geht uns nahe, spätestens dann, wenn wir uns im Kubus durch die umfassende Verspiegelung selbst entdecken.

Bernd Scheffer 2007

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© Lothringer13, Städtische Kunsthalle München
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